Seit gestern Abend schlich sich warme Luft in unser Dorf und
so begann die Auftau-Zeit. Der Nebel ist heute so dicht, dass ich vom Fenster
meiner Arbeitsstube aus nur bis zur Hecke schauen kann. Felder, Wiesen und Dorftümpel
liegen hinter feuchtgrauen Schleiern. Die Vögel haben bis zum Mittag keine Lust
zum Fliegen, sie scheinen lieber aufs Futter zu verzichten, als sich in der
Nässe zu bewegen. Die Luft ist derart von Feuchtigkeit getränkt, dass ich versucht
bin, sie in meine Hände zu nehmen und auszuwringen. Das große Tauen weckt meine
Aufräumsucht, ich ertappe mich, noch im Bett liegend, bereits die Fichtenzweige
von den Beeten abzuräumen und muss mich lauthals bremsen (natürlich nur im
Kopf, denn der Liebste liegt neben mir und schläft noch): „Halt! Es ist erst
Ende Januar, wir haben noch einen Wintermonat vor uns, es kann nochmal schneien
und frieren!“ Dieser Ruf ist gleichzeitig Warnung als auch Trost – das gestrige
Schlittschuhlaufen auf dem See hat mich im Innern aufgefüllt mit … ja, mit was
eigentlich? Freude, Friede? Ja, auch, aber am meisten mit mir selbst. Und das
ist ein verdammt schönes Gefühl. Ich will es wieder haben, ich will noch einmal
Schlittschuhlaufen auf unserem Dorfsee, so allein mit dem Liebsten und den
Rufen von Krähen; und bin somit genau wie eben der neuzeitliche Mensch ist – mir
gefällt was, ich will mehr davon. Aber nein, längst weiß ich, dass es sinnlos
ist, irgendetwas wiederholen zu wollen, wiederhaben zu wollen. Abgesehen davon,
dass ich einfach nicht habgierig sein möchte, habe ich diese Lektion gelernt –
es gibt nichts zweimal, stets ist es anders. Erwartungen drücken auf diese
Wiederholung und zerquetschen sie zu Enttäuschungsbrei. Der schmeckt fade, ich
mag ihn nicht. Also trickse ich meine Habgier aus und gehe in meinen Erinnerungsraum.
Hier finde ich mich wieder auf dem Eis tanzend, ich fühle mich wohl, spüre, wie
sich meine Füße vom Boden abdrücken und mich zum Luftwesen machen, was leicht
übers gefrorene Wasser gleitet. „Und?“ sage ich zu mir, „das können wir so oft
haben, wie wir wollen. Niemand kann es uns nehmen, es bleibt immer wieder
wundervoll.“ Meinen Erinnerungsraum habe ich mir erst einmal frei räumen müssen
von Sehnsüchten nach den vergangenen Erlebnissen und Gefühlen, denn damit
behaftet war er eher Ballast, der mich schwer machte. Jetzt ist er meine
Freiheit – ich kann ihn betreten, so oft ich will und kann mir Gemütszustände
herausnehmen, die ich gerade brauche. In ihm ist auch die Erinnerung an die
heilende Stille enthalten. Ich sitze als kleiner Fratz auf dem Treppenabsatz im
Hause meiner Tante Alma. Vor mir ein vergittertes Hausfenster mit breitem Fensterbrett,
auf meinem Schoß eine alte Arzttasche, gefüllt mit Ansichtskarten, die meine
Tante für mich sammelte. Ich spiele Post und öffne das Fenster, meine
imaginären Kunden verlangen Postkarten, holen ihre Karten ab, weil sie nicht
warten wollen bis der Briefträger zu ihnen kommt oder sie kaufen Briefmarken.
Die hole ich mir von der „richtigen“ Post im Dorf. Der Postbeamte hebt mir die
Ränder der Briefmarkenbögen auf, einige haben sogar Aufdrucke. Dieses Spiel mit
mir allein ging damals oft stundenlang, denn ich fühlte mich in einer tiefen
Stille aufgehoben und geborgen. Erst als ich anfing mit Meditation erinnerte
ich mich daran, dass ich die Stille schon kenne. Jetzt hole ich sie mir, wenn
ich meinen Tag zu früh mit zu vielen Tätigkeiten begann und im inneren Chaos
versinke, von dem Fratz auf der Treppe.
Noch bin ich nicht fertig mit diesem Raum, ich will ihn weiter frei räumen von
Erinnerungen, die mich wütend machen oder mich als ungerecht behandeltes Opfer
darstellen. Diese ollen Kamellen bringen mir nichts außer kranke Gedanken,
Kopfschmerzen und inneren Krieg. Ich finde mir lieber die friedfertigen Gefühle.
Ich sitze hier, spüre dankbar die Arbeit des Kanonenofens im Rücken, gönne dem
Nebel sein Da-Sein und werde den Tag nur ein klitzekleines bisschen fürs
Aufräumen nutzen, denn er ist ja nur ein Tau-Tag.