Heute höre ich den Sprosser zum ersten Mal in diesem Jahr
deutlich. Vermutlich ist er schon einige Tage hier, doch ich war mir nicht
sicher, ob ich seinen Gesang hörte oder den der Singdrossel. Vermutlich braucht
auch er eine gewisse Betriebstemperatur, um seine eigenen Melodien zu finden.
Ich hätte auch gern endlich meine ureigenste innere Melodie
gefunden, die ich dann ohne Scheu ins Außen trage. Immerhin bin ich schon so weit
gekommen zu wissen, dass es sie gibt und manches Mal höre ich einige Sequenzen
im Untergrund. Doch wenn ich sie mit Macht nach draußen schmettern will, kommen
Misstöne hinzu. Dann klingt meine schöne, sanfte Melodie nach Trotz und Urteil,
wird zum Angriffston schlecht gespielter Fanfaren. Flink stelle ich diese Musik
ab, um erst einmal wieder nach innen zu gehen, ihr besser zuzuhören, mich von
ihr leiten zu lassen, damit sie stärker werden kann ohne Krampf und Muss.
Vertrauen darauf, dass sie weiß, wann es Zeit ist, sie nach außen zu bringen.
Geduld gehört dazu, eine Geduld, die jenseits dieser Welt liegt, denn sie nennt
sich mit vollem Namen „unendliche Geduld“. Hier, in meiner Welt aus Plus und
Minus, aus Fertig werden müssen und Leistung zeigen, gibt es nichts Unendliches.
Alles ist endlich und hoffentlich endlich schnell erledigt. Jedoch in mir
erzählt etwas von einer anderen Welt, die mehr Substanz besitzt, weil sie
nichts mit Materie zu tun hat. Hier ist das Unendliche zu Haus und von hier aus
entwickelt sich meine Melodie. Sie macht mich frei von Muss und Soll, befriedet
mich.
Danke, kleiner Sprosser, dass du mich an sie erinnert hast.