Freitag, 22. Juli 2022

Im Wartezimmer

 

10.04.2022

Ich setze mich ins Wartezimmer. Ein präzises Wort für einen Raum, in dem man nichts anderes machen kann, als zu warten. Ich bin zu früh hier angekommen. Von MeckPomm nach Berlin mit dem Auto, das kann nicht genau abgeschätzt werden, trotz Navi. Außerdem wollte ich zu diesem Termin lieber überpünktlich erscheinen, als zu spät. Diese Frauenärztin hat mich immerhin noch kurzfristig an einem Sonnabend in ihre Sprechstunde einbestellt. „Sprechstunde“ ist auch so ein genaues Wort, es ist eine Stunde, in der Menschen sprechen. Am besten erst einmal die Kranken, dann diejenigen, an die sich das Gesprochene richtet.

Aber noch sitze ich, um zu warten. Ich kann aber auch hier sprechen, denn es sitzt noch eine junge Frau im Raum. Ich habe mir einen gemütlichen Sessel ausgesucht, suche mir eine Zeitschrift aus einer Anzahl von interessanter Lektüre heraus. Es sind nicht die üblichen Klatschblätter oder die sogenannten Nachrichtenmagazine, die ich noch aus der Zeit kenne, als ich öfter zum Arzt oder zur Ärztin ging. Hier lese ich einen Artikel über Misteltherapie.

Die Warte-Zeit wird lang. Ich spreche die Frau an und erfahre, dass sie noch vor mir dran sein wird. Sie meint, dass es bei ihr nicht lange dauern wird, nur Ultraschall. Ich schaue sie mir genauer an und sage: „Ah, es soll wohl die Schwangerschaft bestätigt werden?“
„Nein, das ist schon der 2. Ultraschall Termin.“

Ich denke kurz an die Zeit meiner ersten Schwangerschaft. 1979 war es noch etwas Besonderes, zum Ultraschall vorgeladen zu werden. Es musste sich um einen ungeklärten Fall handeln, um eventuelle Zwillingskinder zum Beispiel. Damals wurden wir von Neubrandenburg extra nach Berlin gefahren. Ich durfte mitfahren, weil ich Kinderkrankenschwester war und die Ärztin mir einen Verdacht auf Zwillinge attestierte, obwohl sie genau wusste, dass da nur ein Herzton zu hören war.

Ich erzähle der Frau im Warteraum davon, weil ich es bemerkenswert finde, wie sehr sich alles geändert hat.

Dann wird sie von der Ärztin aufgerufen und ins Sprechzimmer begleitet. Sie verabschiedet sich noch von mir.

Ich sinne ihr hinterher. Sie hat ein Kind des Lebens in sich. Sie wird gespannt sein, was die Ärztin am Bildschirm sieht, was sie ihr darüber berichtet. Vielleicht bekommt sie auch so ein typisches Foto mit nach Hause.

Auch ich habe ein Kind im Leib, besser gesagt in der Brust. Aber es ist ein Kind des Todes. Ich bin ebenfalls gespannt, was die Ärztin beim Ultraschall sehen wird.

Wir zwei Frauen möchten beide, dass die Kinder eines Tages aus unserem Körper hinaus kommen. Ihres wird sich vermutlich von allein melden und den Mutterleib verlassen, um in die Welt hinaus zu kommen.

Meines muss herausgeschnitten werden. Es würde bei mir bleiben, so lange, bis ich keine Kraft mehr habe und mich dem Vater des Kindes hingebe – dem Tod. Doch ich habe mich für das Leben entschieden. Deshalb also wird auch dieses Kind meinen Körper verlassen, es wird in der Welt nicht weiter existieren können. Mitleid mit ihm kann ich mir nicht leisten. Ich bedanke mich bei ihm, es hat mich wach gerüttelt, meine eingefahrenen Lebensgleise noch einmal zu erneuern. Mich trauen, Weichen zu stellen auf – wer weiß, was kommt. Auf jeden Fall werde ich ein ganzes Stück lebendiger aus dieser „Geburt“ heraus kommen.

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