10.04.2022
Ich setze mich ins Wartezimmer. Ein präzises Wort für einen
Raum, in dem man nichts anderes machen kann, als zu warten. Ich bin zu früh
hier angekommen. Von MeckPomm nach Berlin mit dem Auto, das kann nicht genau
abgeschätzt werden, trotz Navi. Außerdem wollte ich zu diesem Termin lieber
überpünktlich erscheinen, als zu spät. Diese Frauenärztin hat mich immerhin
noch kurzfristig an einem Sonnabend in ihre Sprechstunde einbestellt.
„Sprechstunde“ ist auch so ein genaues Wort, es ist eine Stunde, in der
Menschen sprechen. Am besten erst einmal die Kranken, dann diejenigen, an die
sich das Gesprochene richtet.
Aber noch sitze ich, um zu warten. Ich kann aber auch hier
sprechen, denn es sitzt noch eine junge Frau im Raum. Ich habe mir einen gemütlichen
Sessel ausgesucht, suche mir eine Zeitschrift aus einer Anzahl von
interessanter Lektüre heraus. Es sind nicht die üblichen Klatschblätter oder
die sogenannten Nachrichtenmagazine, die ich noch aus der Zeit kenne, als ich
öfter zum Arzt oder zur Ärztin ging. Hier lese ich einen Artikel über
Misteltherapie.
Ich denke kurz an die Zeit meiner ersten Schwangerschaft.
1979 war es noch etwas Besonderes, zum Ultraschall vorgeladen zu werden. Es
musste sich um einen ungeklärten Fall handeln, um eventuelle Zwillingskinder
zum Beispiel. Damals wurden wir von Neubrandenburg extra nach Berlin gefahren.
Ich durfte mitfahren, weil ich Kinderkrankenschwester war und die Ärztin mir
einen Verdacht auf Zwillinge attestierte, obwohl sie genau wusste, dass da nur
ein Herzton zu hören war.
Ich erzähle der Frau im Warteraum davon, weil ich es
bemerkenswert finde, wie sehr sich alles geändert hat.
Dann wird sie von der Ärztin aufgerufen und ins Sprechzimmer
begleitet. Sie verabschiedet sich noch von mir.
Ich sinne ihr hinterher. Sie hat ein Kind des Lebens in
sich. Sie wird gespannt sein, was die Ärztin am Bildschirm sieht, was sie ihr
darüber berichtet. Vielleicht bekommt sie auch so ein typisches Foto mit nach
Hause.
Auch ich habe ein Kind im Leib, besser gesagt in der Brust.
Aber es ist ein Kind des Todes. Ich bin ebenfalls gespannt, was die Ärztin beim
Ultraschall sehen wird.
Wir zwei Frauen möchten beide, dass die Kinder eines Tages aus unserem Körper hinaus kommen. Ihres wird sich vermutlich von allein melden und den Mutterleib verlassen, um in die Welt hinaus zu kommen.
Meines muss herausgeschnitten werden. Es würde bei mir bleiben, so lange, bis ich keine Kraft mehr habe und mich dem Vater des Kindes hingebe – dem Tod. Doch ich habe mich für das Leben entschieden. Deshalb also wird auch dieses Kind meinen Körper verlassen, es wird in der Welt nicht weiter existieren können. Mitleid mit ihm kann ich mir nicht leisten. Ich bedanke mich bei ihm, es hat mich wach gerüttelt, meine eingefahrenen Lebensgleise noch einmal zu erneuern. Mich trauen, Weichen zu stellen auf – wer weiß, was kommt. Auf jeden Fall werde ich ein ganzes Stück lebendiger aus dieser „Geburt“ heraus kommen.
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